Sozialstaatliche Politik

Historische und geistige Grundlagen der Sozialstaatsidee

Im 19. Jahrhundert führte das Zusammentreffen verschiedener Entwicklungen innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer ra-dikalen Änderung der traditionellen Lebensformen und zu einer Verarmung weiter Bevölkerungskreise:

Alle drei Entwicklungen zusammen bewirkten, dass sehr viele Personen in den neu entstehenden Fabrikbetrieben und anderswo eine bezahlte Arbeit suchen mussten. Man bezeichnete sie als Proletarier, weil sie nichts anderes hatten als ihre Kinder. Ihre große und rasch wachsende Anzahl führte zu einem Angebotsdruck auf dem Arbeitsmarkt und zu elenden Existenzbedingungen:

Es kam die Frage auf, wie man diese elenden Zustände überwinden und wie man zu menschenwürdigen Lebensbedingun-gen auch für die Arbeiterschaft gelangen könnte. Das war die große soziale Frage im 19. Jahrhundert. In der Auseinander-setzung mit dieser Frage entwickelte sich die breite politische Strömung des Sozialismus. Liberalismus und Sozialismus beinhalten unterschiedliche Auffassungen von einer freiheitlichen und gerechten Gesellschaftsordnung, insbesondere über die Rolle des Staates beim Herstellen und Sichern einer derartigen Ordnung.

Liberalismus Sozialismus
Ziel Freiheit soziale Gerechtigkeit
Adressat Individuum Staat
Wurzeln frz. + am. Rev. / A. Smith (Aufklärung) Lassalle, Marx/Engels (Arbeiterbewegung)
Forderungen Rückzug d. Staates, Deregulierung Gesetze, soz. Sicherung, soz. Ausgleich
Polemik Nachtwächterstaat, laisser faire Wohlfahrtsstaat, Versorgungsstaat

Sozialstaatliche Politik in Deutschland bis 1945

Die Anfänge sozialstaatlichen Handelns
Der deutsche Staat des 19. Jahrhunderts verkörperte die Interessen der Monarchen, des Adels und des Großbürgertums. Diese Kreise standen der sozialen Frage distanziert gegenüber. Praktische Ansätze zur Verbesserung der Lage der Arbei-ter kamen deshalb zunächst von anderer Seite.

Diese verschiedenen Gruppierungen übten einen sehr starken Druck auf den Staat aus, der jedoch zunächst nur zögernd reagierte. Er konzentrierte sich zunächst auf Maßnahmen des Arbeitnehmerschutzes. Als erstes großes Dokument sozial-staatlichen Engagements gilt die Kaiserliche Botschaft von 1881, in der ein gesetzlicher Schutz der Arbeiter angekündigt wurde für die Fälle, dass das Einkommen wegen Krankheit, Unfall oder Alter entfällt. Es gab drei neue Gesetze: 1883 Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, 1884 Unfallversicherungsgesetz und 1889 Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung. Diese drei Gesetze hießen Bismarcksche Sozialgesetze, waren international wegweisend und schufen die Grundlage für das heute noch geltende System der Sozialversicherung. Probleme gab es, weil die neue Schicht der Unternehmer nicht mit den Schutzgesetzen einverstanden war. Einige fühlten sich zu einge-schränkt, anderen gingen die staatlichen Maßnahmen nicht weit genug.
Das staatliche Handeln war auch nicht immer uneigennützig. Beispiel: Begrenzung der Kinderarbeit, weil laut eines Be-richtes eine Folge der Kinderarbeit ein Rückgang der Militärtauglichkeit war.

Wachsendes Gewicht der Arbeiterschaft
1890 lief das Sozialistengesetz aus, erreichten die Sozialdemokraten bei der Reichstagswahl 20 % aller Stimmen und wurde Bismarck entlassen. Die politischen Vorrausetzungen sozialstaatlichen Handelns änderten sich. Wilhelm II. wollte die Arbeitnehmer mit dem monarchischen Staat versöhnen. Er veranlasste einen sozialpolitischen Kurs, der auf mehr staatliche Für- und Vorsorge zielte und die Rechtspositionen von Arbeitnehmern und Gewerkschaften verbesserte.
Während des I. Weltkrieges sollten die Arbeitskräfte, die nicht wehrtauglich waren, so auf die Produktionsstätten verteilt werden, dass die Rüstungsproduktion gesichert war. Dies ließ sich nur noch mit der Arbeitnehmerschaft, nicht gegen sie durchsetzen.
Der Erste Weltkrieg war der große Wegbereiter für den Aufstieg der Arbeitnehmerschaft vom Objekt sozialstaatlicher Fürsorge zum gesetzlich anerkannten Partner im Arbeitsleben.

Weiterentwicklung der sozialstaatlichen Ansätze in der Weimarer Republik
Für die weitere Entwicklung des Sozialstaats war der Übergang von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentari-schen Demokratie von grundlegender Bedeutung. Die Forderung Ferdinand Lassalles nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht war erfüllt. Die Weimarer Verfassung erhielt eine reiche sozialstaatliche Programmatik. Die Gesetzgeber kon-zentrierten sich darauf, die Stellung der Arbeitnehmer im Arbeitsleben zu sichern und zu verbessern.

Grundentscheidung für die Sozialpartnerschaft
Nach Kriegsende hatten sich Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in einer Zentralarbeitsgemeinschaft zusammenge-funden, um die anstehenden wirtschaftlichen und sozialen Übergangsprobleme besser lösen zu können. Die Arbeitgeber gingen auf zahlreiche Forderungen der Gewerkschaften ein. Der Gesetzgeber folgte dem Weg schrittweiser Reformen. Anfang 1923 räumte man dem Staat das Recht ein, tarifvertrag-liche Regelungen für allgemeinverbindlich zu erklären. Mit der 1927 eingeführten Arbeitslosenversicherung waren ar-beitslos gewordene Arbeitnehmer nicht mehr auf die sehr niedrige Erwerbslosenfürsorge angewiesen. Das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927 bündelte die Vermittlungs-, Beratungs- und Versicherungs-aufgaben bei einer zentralen Instanz. Damit war ein System staatlicher Arbeitsverwaltung geschaffen, das in seinen Grundzügen noch heute gilt.

Betriebliche Mitbestimmung und der Rätegedanke
Ein wichtiger Reformschritt war die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betrieb. 1920 wurde bestimmt, dass in Betrie-ben mit mindestens fünf Beschäftigten ein Vertrauensmann, in Betrieben mit mindestens 20 Beschäftigten ein mehrglied-riger Betriebsrat zu wählen sei.
Art. 165 der Weimarer Verfassung enthielt das Programm eines Rätesystems. Seine zwei Säulen waren Arbeiterräte und Wirtschaftsräte. Der Rätegedanke zielte auf eine völlig neue Organisationsform der Wirtschaft. Die Konzeption einer überbetrieblichen regionalen und gesamtwirtschaftlichen Mitbestimmung hat sich nicht durchgesetzt
. Der soziale Wohnungsbau, weitere Neuerungen auf den Gebieten des Arbeitnehmerschutzes und der Sozialversicherung waren zwar im Einzelnen bemerkenswert, traten aber hinter den genannten sozialstaatlichen Neuerungen zurück.

Der Kompromiss zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zerbricht
Auf dem Feld der Arbeitsbeziehungen geriet die Ausweitung des Sozialstaats beim praktischen Vollzug jedoch ins Sto-cken. Der historische Kompromiss zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern von 1918 verlor schon bald an Kraft und zerbrach mit der Auflösung der Zentralarbeitsgemeinschaft 1924 wegen der Haltung der industriellen Arbeitgeber. Sie forderten eine Revision der sozialstaatlichen Politik mit dem Ziel, über rückläufige oder stabile Lohnkosten die Wirt-schaftlichkeit der Produktion wieder zu verbessern. Das erschien den Arbeitnehmern wie Verrat an den gemeinsam geleg-ten Grundlagen der Republik. Die freiwilligen Tarifvereinbarungen mussten durch eine staatliche Zwangsschlichtung ersetzt werden.
Im Winter 1928/29 stieg die Arbeitslosenzahl auf fast drei Millionen. Damit die Arbeitslosenversicherung weiter zahlen konnte, musste das Reich mit Krediten einspringen. Die Frage war nun, ob die Sanierung der AV über steigende Beiträge oder geringere Sozialleistungen erfolgen sollte. Die Gewerkschaften waren für den ersten, die Unternehmer für den zwei-ten Weg. Diese Positionen führten 1930 zum Bruch der damaligen Großen Koalition. Dieser Bruch markierte das eigent-liche Ende der Republik. Es begann eine Phase der Präsidialkabinette, die in die Hitlerdiktatur mündete.
Der Auslöser dieses Scheiterns war zwar der Streit um die Arbeitslosenversicherung, doch das Scheitern hatte tiefere Wurzeln:

Kurswechsel im totalitären Staat

Das NS-Regime brachte einen radikalen Kurswechsel:

In der Entwicklung des Sozialstaats markierte die staatliche Beschäftigungspolitik einen wichtigen Einschnitt. Der Staat versuchte, eine rückläufige private Güternachfrage durch zusätzliche staatliche Nachfrage auszugleichen und so die Nach-fragentwicklung zu stabilisieren. Die Konjunkturpolitik wurde somit zur Staatsaufgabe und das sozialstaatliche Handeln hatte eine neue Dimension.

Hansemann:
Marx / Engels:
Lassalle:

Der 09. November:
1918 Revolution der Arbeiterbewegung
1923 Hitlerputsch in München
1938 Pogromnacht
1989 Mauerfall

Artikel 20 Grundgesetz soziale Probleme / Ausgaben bei der Bevölkerungspyramide Was sind die Voraussetzungen für die Industrialisierung eines Landes? Was sind die Folgen der Industrialisierung? Liberalismus im 19. Jahrhundert: