Ich habe durch ein viel geteiltes Video auf Google+ von Inge Hannemann erfahren. Im folgende Interview hat sie uns einige interessante Antworten zur der Situation in Jobcentern gegeben und ihre Meinung zur Alternativen von Hartz IV wie dem bedingungslosen Grundeinkommen sowie dem Bürgergeld-Vorschlag der FDP.
Lern-Online.net: Frau Hannemann, bitte stellen Sie sich kurz vor und wodurch sie als Jobcenter-Mitarbeiterin bundesweit bekannt geworden?
Inge Hannemann:
Bis zur meiner Freistellung vom Dienst bis auf Widerruf durch Jobcenter team.arbeit.hamburg am 22. April 2013 war ich als Arbeitsvermittlerin im Bereich der jungen Menschen von 15 Jahre bis 25 Jahre im Jobcenter Hamburg-Altona tätig. Ich bin 45 Jahre, verheiratet, habe eine 20-jährige studierende Tochter und lebe in Hamburg-Altona.
Bereits seit April 2012 betreibe ich den kritischen Hartz IV-Blog „altonabloggt“, in dem ich die Missstände in den Jobcentern beschreibe sowie das Hartz IV-System in Frage stelle und kritisiere. Dieses habe ich von Beginn an mit meinem Namen getan, um für die Leser eine Transparenz und Glaubwürdigkeit herzustellen. Aufgrund meiner schriftlichen, aber auch öffentlichen Kritik bei Vorträgen und Videos wurde ich im März 2012 zu einer kurzfristig angesetzten Anhörung durch meinen eigentlichen Arbeitgeber der Stadt Hamburg (Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration) geladen. In diesem Schreiben wurde deutlich, dass ich entweder meinen Blog zu schließen hätte oder eventuelle Konsequenzen drohen. Aufgrund dessen habe ich die Anhörung in das Netz gestellt und innerhalb weniger Stunden entwickelte sich eine sehr große Solidaritätswelle. Damit nahm die Bekanntheit meiner Person ihren Lauf und wächst wöchentlich.
Lern-Online.net: Würden Sie sagen, das der Jobcenter-Mörder in Neuss wegen den, wie sie sagen unmenschlichen Jobcenter-Regeln stattgefunden hat oder war dies ein sehr unglücklicher Einzelfall?
Inge Hannemann:
Bisher war Neuss glücklicherweise ein Einzelfall in diesem Ausmaße. Zu beobachten ist jedoch, dass die Gewalt, ob verbal oder körperlich durchaus zunimmt. Das ist meine subjektive Wahrnehmung, auch aus meinem eigenen Jobcenter. Die Menschen in den Jobcentern, ob als Betroffener oder auch als Mitarbeiter sind einen enormen Druck ausgesetzt. Die Betroffenen, durch die zum Teil stark vorherrschenden Machtstellungen und deren negativen Ausübung in den Jobcentern, die Mitarbeiter durch den hohen Arbeitsaufwand und dem Druck durch die Bundesagentur für Arbeit oder den einzelnen Weisungen durch die Führung vor Ort. Gelehrt wird die absolute originäre rechtskonforme Anwendung des Sozialgesetzbuches II. Wer als Mitarbeiter ausbricht, hat zumeist mit Repressalien von Oben oder den Kollegen bis zum Jobverlust zu rechnen. Das zeigen mir insbesondere die vielen Mails meiner Kollegen, die dieses bestätigen. Dieser Druck, das Fehlen eines empathischen Umgangs mit Erwerbslosen und das zum Teil hohe Desinteresse am eigenen Job oder den Menschen, kann so zu Gewalt führen. Existenzängste durch die Bedrohung der Sanktionspraxis verstärkt all dieses zusätzlich. Die Betroffenen fühlen sich oftmals nicht mehr als Mensch, sondern nur noch als stigmatisierte „faule, schmarotzende Hartzer“ und ertragen z.T. die Demütigungen nicht und existenzielle Abhängigkeit ist per se eine.
Lern-Online.net: Sie haben Recht, das wenn die Seele erkrankt ist, erkrankt der Körper. Dazu fällt mir der Spruch: Das Leben ist kein Ponyhof. Wenn man in der Schule schon oft denkt, wofür lern ich dies oder das? So finde ich, gibt es immer gute Gründe für Weiterbildungsmaßnahmen für Arbeitslose als Beschäftigung.
Inge Hannemann:
Als Schülerin habe auch ich oft gedacht, wofür lerne ich dies oder jenes. Auch heute denke ich desöfteren, dass ich vieles bis heute nicht benötigt hätte, wie z. B. die Zusammensetzung einer Bohne. Trotz allem glaube ich durchaus, dass jedes Lernen, sofern es inhaltlich wertvoll ist, die eigene Denkkraft stärkt und somit zu vielem eine Verbindung zu anderem Wissen hergestellt werden kann. Es entsteht eine Verknüpfung. Weiterbildungsmaßnahmen sehe ich dann als sinnvoll an, wenn sie tatsächlich anzuwendendes Wissen vermittelt. Als Beispiel nenne ich Qualifizierungen für EDV-Neulinge in der Anwendung von Word, Excel oder Buchhaltung. Auch Weiterbildungen auf dem vorhandenen Beruf oder erlangten beruflichen Kenntnissen können durchaus sinnvoll sein. Voraussetzung ist jedoch immer der praktische Nutzen, der nach der Weiterbildung angewendet werden kann. Qualifizierungen, in denen die Teilnehmer den ganzen Tag basteln, Spiele zusammensetzen oder Regale mit Kunststofflebensmitteln einräumen, sehe ich als nicht zukunftweisend. Sie erweitern weder das theoretische Wissen noch die Praxis. Eher stellen sie für mich eine Beschäftigungstherapie mit einem stupiden Ablauf dar.
Lern-Online.net: Die wenigsten Menschen mögen Druck. In der Schule war der Druck bzw. die Prüfungen der größte Grund, warum ich was für Schule tun musste. Im Studium war das ähnlich, wobei es mir eher zu wenig Druck war, da es immer nur am Ende des Semester einfach Endloss-Druck war. Druck gehört zum Leben dazu oder sehen Sie das ganz anders?
Inge Hannemann:
Druck gehört zum Alltag dazu. Das war im Mittelalter schon so, wenn die Menschen sich selbst das Essen organisieren mussten – ohne Industrialisierung oder Sozialabsicherung, wie sie heute vorherrscht. Es ist für mich jedoch ein Unterschied, ob ich Druck in der Schule oder im Studium erhalte, oder ob ich als Betroffene Druck mit womöglich einhergehenden Existenzängsten durchleben muss. In der Schule oder im Studium kann ich die Wirkung des Drucks stückweise selbst regulieren. Lerne ich, habe ich die Chance auf gute oder bessere Noten. In den Jobcentern kann der ausgeübte Druck bei den Erwerbslosen nicht gesteuert werden. Dieser entsteht oftmals schon, wenn der Leistungsberechtigte das Jobcenter betritt. Es ist in meinen Augen ein subtiler Druck durch die Machtstellung in den Jobcentern. Machtinstrumente wie das Sanktionieren und dem damit verbundenen Geldentzug stellt einen Druck dar, der oftmals nicht mehr steuerbar ist. In diesem Fall erzeugt der Druck einen enormen Gegendruck, der zu Implosion oder Explosion führen kann, und zwar auf beiden Schreibtischseiten.
Lern-Online.net: Thema Sanktionen für den Hartz IV-Satz: Wenn man zu einem Termin in das Jobcenter als Arbeits- bzw. Erwerbsloser nicht erscheint, kann man mit der Reduzierung seines Hartz-IV Satzes rechnen. Kann man denn bei Krankheit oder anderen triftigen Gründen, solch ein Termingespräch nicht per Telefon führen?
Inge Hannemann:
Wir haben intern durchaus die Möglichkeit das Beratungsgespräch per Telefon zu führen. Zum Teil werden wir sogar angehalten, dieses so auszuüben, um am Ende des Monats die Quote der Beratungsvermerke zu erfüllen. Diese Anweisungen werden per Mail durch die Teamleitung versendet. Insbesondere durch die Möglichkeit die Termine per Telefon zu führen, empfinde ich als sehr sinnvoll, da es durchaus Erwerbslose gibt, die aus psychischen oder auch physischen Gründen ihre Wohnung nicht verlassen können.
Lern-Online.net: Sie kritisieren ja stark die Hartz IV-Gesetze und bezeichnen diese als Verletzung gegen das Grundgesetz. Was halten Sie vom Modell der FDP des Bürgergelds? http://www.fdp.de/Buergergeld/687b248/
Inge Hannemann:
Bürgergeld stellt eine andere Form der ehemaligen Sozialhilfe dar. Auch damals wurden erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger zentral „unterhalten“ und durch das ehemalige Arbeitsamt in Tätigkeiten vermittelt. War der Lohn nicht ausreichend, konnten die Menschen ergänzende Leistungen oder Beihilfen über das Sozialamt beantragen. Aus der Sicht der wegfallenden derzeitigen erpressbaren Sanktionspraxis in den Jobcentern, stellt das Bürgergeld jedoch eine Alternative dar, um so zumindest Hartz IV auszuhebeln.
Lern-Online.net: Was halten Sie von der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens und wie sich damit die Arbeitswelt ändern könnte?
Inge Hannemann:
Das bedingungslose Grundeinkommen stellt ein Leben in Würde dar, auch ohne eine Erwerbstätigkeit. Der Grundgedanke des bedingungslosen Grundeinkommens berücksichtigt den Punkt, dass es nicht mehr genug Arbeit für alle gibt. Und für diese Menschen muss sichergestellt sein, dass ihre Existenz gesichert ist, dass es keinen staatlichen Arbeitszwang in den prekären Arbeitsmarkt gibt und somit die Stellung des „Bittstellers“ in den Behörden aufhört. Ich rechne sogar damit, dass die soziale Arbeit, welche jetzt zum größten Teil in Stille als Ehrenamt ausgeübt wird sich ausbaut. Auf diesem Weg wird das Ehrenamt, worauf das soziale System baut und benötigt, entsprechend entlohnt und belohnt. Ein weiterer Vorteil liegt im Abbau des derzeitigen starken Bürokratismus und dem „Behördendschungel“. Die Jobcenter, die Agenturen für Arbeit werden nicht mehr benötigt. Wir haben nicht mehr genug Arbeit für alle. Wir haben jedoch genug Kreativität, Fachwissen, Fachkräfte und Menschen, die wollen aber nicht dürfen. Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen können und dürfen die fachlichen, menschlichen Ressourcen ausgebaut und umgesetzt werden. Hier sehe ich ein Gewinn, insbesondere für die Gesellschaft aus dem sozialen Kontext heraus. Ziel muss es sein, den Menschen aus der Lohnarbeit zu befreien und nicht umgekehrt den Menschen durch neue Arbeitsplätze zu versklaven.
Lern-Online.net: Was ist der Unterschied zwischen Haushalts- und Bedarfsgemeinschaft in einer Wohngemeinschaft?
Inge Hannemann:
In der Bedarfsgemeinschaft gilt der Grundsatz des gegenseitigen Einstehens. Dementsprechend wird das Arbeitslosengeld II auf alle Mitglieder verteilt. So erhält z.B. jedes Haushaltsmitglied den gleichen Anteil der Gesamtmiete. Ein Einkommen wird ebenso auf jede Person im Haushalt aufgeteilt, auch wenn der Erwerbstätige den eigenen Bedarf mit seinem Lohn decken könnte. Im Vergleich dazu steht die Haushaltsgemeinschaft , die einfach ausgedrückt eine Wohngemeinschaft ist. Es gibt keine Vermutung über das gemeinsame Wirtschaften der Gelder.
Lern-Online.net: Warum halten sie die Menschen, die zu Zeitarbeitsagenturen gehen und dadurch vom Jobcenter wegkommen, für Opfer des Systems? Denn diese Menschen handeln selbst und versuchen auf eigene Weise in das Berufsleben einzusteigen. Können diese Menschen als Zeitarbeiter mit keiner Unterstützung und paralleler Arbeitssuche seitens des Jobcenters rechnen?
Inge Hannemann:
Grundsätzlich ist es immer gut, wenn die Erwerbslosen jede Chance für eine Tätigkeit wahrnehmen. Auch Zeitarbeit kann es sehr geringe Chance sein. Aber eben nur sehr gering. Die Zeit- und Leiharbeit deckt zumeist nur den gewerblichen Bereich ab, der mit durchschnittlichen 8,19 Euro brutto die Stunde bezahlt wird. Davon kann ein Mensch nicht leben und bleibt abhängig vom Jobcenter oder den Agenturen für Arbeit. Dieses trifft in großem Maße auf Menschen zu, die in Städten wohnen und eine hohe Miete bezahlen müssen oder die Lebenshaltungskosten hoch sind. Selbstverständlich gibt es auch Zeit- und Leiharbeitsfirmen, die höherwertige Arbeit anbieten und entsprechend über die 8,10 Euro bezahlen. Diese sind jedoch sehr gering. Arbeitnehmer aus den Zeitarbeitsfirmen, welche aufstockend Hartz IV beziehen, unterstehen dem gleichen Druck, wie Nichterwerbstätige. Eine Hilfe durch die Jobcenter für eine, vor allem besser bezahlte Tätigkeit erfolgt zumeist nicht, da diese Arbeitnehmer kaum mehr eingeladen werden. Parallel erhalten sie jedoch den Druck, sich eine besser bezahlte Tätigkeit zu suchen. Ein Widerspruch in sich. Die Jobbörse gibt auch kaum wirklich gute Arbeitsstellen her. Das liegt jedoch nicht direkt am Jobcenter. Viele Arbeitgeber verweigern die Zusammenarbeit mit den Agenturen für Arbeit. Die Gründe sind vielfältig. Ein starker Grund liegt u.a. darin, dass auch ihnen der Anteil der Zeit- und Leiharbeitsfirmen zu groß ist. Damit geht ihr eigenes Stellenangebot unter, weil zuvor rund 70% der prekäre Arbeitsmarkt angezeigt werden.
Lern-Online.net: Arbeitnehmerüberlassung gibt es in Form von Zeitarbeit bzw. Leiharbeit. Kennen sie auch die Bezeichnung Body-Leasing. Ist dies eine andere Form der Leiharbeit?
Inge Hannemann:
Body-Leasing, gerne im IT-Bereich eingesetzt, ist eine andere Form von Leiharbeit, die von Beginn befristet ist. Der Ausleiher stellt den Arbeitsplatz zur Verfügung, ohne jedoch die Pflichten als Arbeitgeber tragen zu müssen. Allein, dass zwischen dem Arbeitgeber und dem „Verliehenen“ eine dritte Person dazwischen ist, senkt die Löhne für den Arbeitnehmer.
Lern-Online.net: Welche Bücher oder Persönlichkeiten haben ihr Leben beeinflusst und warum?
Inge Hannemann:
Besonders prägend waren und sind noch bis heute die Bücher der Geschwister Scholl wie „Die weiße Rose“ sowie „Das Tagebuch der Anne Frank“. Bereits seit früher Jugend hat mich der mutige und konsequente Widerstand im Dritten Reich interessiert. Parallel dazu habe ich sehr gerne Heinrich Böll, Berthold Brecht, Max Frisch sowie Gunter Wallraff gelesen. Gesellschafts- und sozialkritische Literatur, die mit knappen Worten durchaus auf den Punkt kommt. Ebenso gerne lese ich auch Bücher über die Philosophie oder zur Entspannung Biographien. Als Persönlichkeiten haben mich Ghandi, Nelson Mandela als auch die bereits genannten Autoren beeinflusst und tun dieses noch immer. In der Politik waren und sind es Willy Brandt, Helmut Schmidt, Dr. Heiner Geißler sowie Jutta Ditfurth und Petra Kelly.
Lern-Online.net: Wird E-Learning immer wichtiger für die Weiterbildung von Arbeitssuchenden?
Inge Hannemann:
Für Menschen, die keine audio-visuelle Unterrichtseinheiten benötigen, kann es sogar ein eigenständiges Lernmaterial darstellen. Oftmals ist es auch günstiger, so dass eine Finanzierung eventuell leichter fallen könnte. Der Vorteil liegt auch darin, dass die Zeit frei einteilbar ist.
Wir danken Frau Hannemann für dieses spannende Interview und wünschen ihr alles Gute.